Berufs-Bedenkenträger:
Bevor sich das Stadtparlament wie immer vor der Sommerpause über die Rechnung des Vorjahres beugte, hatte es sich mit einem wesentlichen Pfeiler unserer Stadtgeschichte zu befassen, nämlich der Reformation. Das ist in einer Stadt wie St.Gallen nach wie vor potenziell ein heisses Eisen, da der Kulturkampf hier vor nicht allzu langer Zeit noch heftig wütete. Der Stadtrat unterbreitete dem Parlament einen Verpflichtungskredit von 700‘000 Franken, um verschiedene Projekte rund um das 500-Jahr-Jubiläum der Reformation umzusetzen. Immerhin trägt St.Gallen seit Januar 2015 das Label „Reformationsstadt Europas“ und gehört damit zu den europaweit 50 derart „gelabelten“ Städten; in der Schweiz sind es deren zehn. St.Gallen spielte in der Ostschweiz im Zuge der Reformation eine tragende Rolle; Joachim von Watt (Vadian) und Johannes Kessler setzten sich intensiv mit den Lehren Luthers auseinander. Ein Anlass, innezuhalten, diese spezielle Geschichte zu studieren und daraus auch Erkenntnisse für die Gegenwart abzuleiten. Nun, im Stadtparlament bewegten sich die „Frontlinien“ nicht – wie man dies unreflektiert vielleicht hätte erwarten müssen – entlang der tradierten konfessionellen Grenzen, sondern zwischen CVP und FDP auf der einen und dem linksgrünen Lager inklusive Teilen der SVP (!) auf der andern Seite. Da waren sie also wieder, die ewigen Bedenkenträger. Jene Spezies, die in unseren Breitengraden recht zahlreich verbreitet ist und liberale Geister oft den Kopf schütteln lässt. Was sei denn Anlass zu feiern, wo bleibe der Bezug zur katholischen Kirche, wo bleibe die kritische Auseinandersetzung mit der Religion, und wo die Aktualität? Diese und viele weitere Einwände seitens SP wurden dann von der SVP angereichert mit dem ultimativen Kostenargument, indem die budgetierten Reserven von 120‘000 Franken als völlig überrissen dargestellt wurden. Das Thema der Reformation weckt jedenfalls heute noch Emotionen, wenn auch auf unerwarteter Seite. FDP-Vertreterin und Stadtführerin Jennifer Deuel legte ihrerseits engagiert dar, dass gerade Vadian eine wirklich herausragende und interessante Persönlichkeit war, die wider den Aberglauben angetreten sei und z.B. auch jegliche Hexenverbrennung untersagt habe. Und sie zitierte den sozialistischen deutschen Politiker und Publizisten August Bebel (1840 -1913): „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“ Trotz eines ebenfalls sehr engagierten Votums des Stadtpräsidenten liessen sich die Bedenkenträger(innen) kaum von ihrer „heiligen“ Mission abbringen; sie blieben letztlich aber ohne Erfolg. Das Parlament genehmigte – wenn auch denkbar knapp – den Kredit, und das ohne Kürzungen. Nur am Rande sei erwähnt, dass der Kulturkampf zumindest bei einem Teil unserer Bevölkerung offensichtlich und glücklicherweise überwunden ist. Denn: Die Kommunikationsagentur, die das Reformationsjubiläum 2017/18 betreuen soll, ist bekannterweise im CVP-Milieu angesiedelt. Ausgerechnet!